Erdgeschichte und Menschheit


Die Geschichte am Stück


Auszug aus einem Vortrag "Erde und Weltraum - ein Streifzug durch Raum und Zeit" von Alvo v. Alvensleben aus Freiburg i. Br. (1970) mit Ergänzungen von W. Beyer (kursiv). Bei Gelegenheit werde ich die Daten noch von 5 auf 4,5 Milliarden Jahre umrechnen.




Um was geht es?

  

Nicht nur kosmische Entfernungen, auch kosmische Zeiten sind so groß, dass unsere Anschauung, die an Metern und Minuten geschult ist, uns völlig im Stich lässt. So ist es für unser Vorstellungsvermögen ziemlich gleichgültig, ob ich sage, die Erde als eine die Sonne umkreisende Kugel sei etwa 5 Millionen - oder sie sei 5 Milliarden Jahre alt. Beide Zeiträume liegen so weit jenseits unserer uns vertrauten Vorstellungswelt, dass wir sie nicht wirklich unterscheiden können.

Um dennoch eine Vorstellung wenigstens der relativen zeitlichen Ordnung und Größe geologischer Epochen zu bekommen, wollen wir (nach einem Vorschlag von Prof. Heinrich Siedentopf) das Alter der Erde - rund 5 Milliarden Jahre - auf den Zeitraum eines Jahres abbilden. Den uns geläufigen Unterteilungen der Zeit entsprechen dann (abgerundet) folgende Zeiträume:

       1 Monat   =   420 Millionen Jahre
       1 Woche   =   100 Millionen Jahre
       1 Tag   =   14 Millionen Jahre
       1 Stunde   =   600 000 Jahre
       1 Minute   =   10 000 Jahre
       1 Sekunde   =   160 Jahre

In diesem Maßstab dauert ein Menschenleben von 80 Jahren also rund eine halbe "Sekunde".


Januar

  

Lassen wir nun die Erdentstehung am 1. Januar beginnen, und den heutigen Tag mit der Mitternacht des 31. Dezember unseres Modelljahres zusammenfallen.

Am Neujahrstag existiert die Sonne bereits, und in ihrer Umgebung haben sich einzelne Klumpen aus Gesteinsbrocken, Staub und Gas zusammengeballt - die Planeten im Urzustand.

Im Lauf des Januar erhitzt sich die Erde, teils durch die beim Aufschlagen von Materie als Wärme freiwerdende kinetische Energie, teils durch den Zerfall radioaktiver Elemente. Die Erdkugel wird soweit flüssig, dass der größte Teil des in der Ursubstanz vorhandenen Eisens in den Erdkern absinkt.


Februar

  

Am 1. Februar hat die Erde einen schweren Eisenkern, um den herum ein Mantel von leichteren Silikaten liegt, darüber eine Gashülle, die überwiegend aus Wasserstoff besteht.

Der Mond, bei dessen Entstehung es weniger heiß hergegangen ist, hat bereits eine - mindestens teilweise - feste Kruste.


April

  

Im Laufe des Februar und März kühlt sich die Erde weiter ab; aber erst im April entstehen die ersten festen Schollen an der Oberfläche des noch glutflüssigen Erdmantels. Die Erdatmosphäre hat ihren Wasserstoff teilweise in den Weltraum verloren und besteht wahrscheinlich aus Methan, Ammoniak, Kohlendioxid und Wasserdampf. Freien Sauerstoff gibt es noch nicht.


Mai

  

Anfang Mai ist die Erdoberfläche soweit abgekühlt, dass Wasser nicht mehr verdampft; nun können sich Ozeane, Flüsse und Seen bilden. Das Wasser beginnt sogleich zusammen mit dem Wind, Erhebungen der Erdkruste abzutragen.

Mitte Mai entstehen die allerersten Lebensspuren im Meer - einzellige Blaualgen und Bakterien.

Beim Stoffwechsel der Algen wird Sauerstoff freigesetzt - ganz langsam beginnt eine Umwandlung der Atmosphäre, die für die weitere Entwicklung des Lebens von entscheidender Bedeutung ist.


August

  

Aber erst Ende August gibt es genügend Sauerstoff für die einfachsten Tiere. Aus dieser Zeit stammen die Überreste von kleinen zweischaligen Krebsen.

Während die Entwicklung des Lebens nur langsam voranschreitet, sind die Kräfte, die die Erdoberfläche gestalten, umso aktiver. Erdschollen brechen auf, schieben sich übereinander, Gebirge entstehen und werden von Wind und Wasser wieder eingeebnet. Im Oktober wird bei gewaltigen Lavaergüssen der ganze Nordosten Kanadas, eine Fläche von 5 Millionen Quadratkilometer, 5 Kilometer hoch mit einer Lavaschicht überzogen.

Etwa um dieselbe Zeit, vielleicht durch die Trübung der Erdatmosphäre ausgelöst, die mit dem kanadischen Lavaausbruch verbunden gewesen sein muss, beginnt eine erste Eiszeit, deren Spuren sich noch heute in Kanada finden lassen (Huronische Vereisung); sie dauert einen oder zwei Tage unseres Modelljahres.


November

  

Am 19. November beginnt ein neuer Abschnitt der Erdgeschichte, das Kambrium. Von nun an werden die erhalten gebliebenen Spuren zahlreicher.

Aus ihnen erfahren wir, dass sich die Erde in knapp 21 Stunden um ihre Achse dreht; das Jahr hat 425 dieser kurzen Tage. Der Mond steht der Erde etwas näher als heute und umkreist sie jährlich 13 mal. Am 20. oder 21. November beginnt eine zweite große Vereisung; ihre Spuren lassen sich heute noch in Europa, Afrika und Australien nachweisen (Eokambrische Vereisung).

Der 22. November ist ein besonderer Tag. Innerhalb weniger Stunden entstehen die Baupläne sämtlicher Lebewesen. Bis Silvester wird nichts wesentlich Neues hinzukommen. Die Ursache dieser sog. "Kambrischen Explosion" war vermutlich ein deutlicher Anstieg des Sauerstoffgehaltes der Atmosphäre. Über die Hintergründe dieses Vorgangs wird bis heute spekuliert.

Noch immer gibt es Tiere und Pflanzen nur im Wasser. Erst am 30. November unseres Modelljahres gehen die ersten Pflanzen an Land. Aus dieser Zeit, um den 1. Dezember, haben wir einige Kenntnisse über die Verteilung von Land und Meer, die damals ganz anders als heute aussah. Ein gewaltiger Südkontinent, den die Geologen Gondwanaland nennen, lag am Südpol der Erde. Er umfasste Südamerika, Afrika, Indien, Antarktis und Australien. Das heutige Wüstengebiet der Sahara lag am Südpol der Erde und war von einem mächtigen Eispanzer bedeckt, wie heute die Antarktis.

Nordamerika war gegenüber der heutigen Lage ungefähr um 45° im Uhrzeigersinn gedreht, und der Äquator verlief von Mexiko zur Hudsonbay in Kanada. Zwischen Afrika und Nordamerika lag ein Ur-Atlantik von 8000 km Breite, der - vor allem durch ein Driften Afrikas vom Südpol nach Norden - allmählich schmaler wird und sich am 13. Dezember schließt.

Aber noch sind wir nicht so weit.


6. Dezember

  

Am 6. Dezember kriechen die ersten Tiere auf das Festland. Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Lebens ist damit getan. Wir können uns heute vorstellen, warum es bis zu diesem Schritt so lange gedauert hat - die Schwerkraft, im Wasser kaum spürbar, ist ungewohnt, und die Trockenheit muss durch einen Trick, nämlich durch die Entwicklung eines inneren Flüssigkeitskreislaufs zur Versorgung der Körperzellen, überwunden werden. Auch die Temperaturunterschiede sind auf dem Lande viel größer als im Wasser. Ähnlich große Schwierigkeiten hatten erst die menschlichen Astronauten zu überwinden, als sie zum ersten Mal die Erdatmosphäre verließen und sich gegen Vakuum, Schwerelosigkeit und kosmische Strahlung schützen mussten.


7. Dezember

  

Am 7. Dezember beginnt das Karbon-Zeitalter. Die Wälder, deren Überreste wir heute als Steinkohle verheizen, wachsen und vergehen; in ihnen tummeln sich Reptilien und Insekten.


12. Dezember

  

Irgendwann in dieser Zeit, zwischen dem 7. und 12. Dezember unseres Modelljahres, entwickeln sich aus den Reptilien die ersten Säugetiere, die ersten Vögel und die Riesenechsen, die Saurier.

Ungefähr am 12. Dezember, am Ende des Karbonzeitalters, beginnt eine neue große Eiszeit, die bis zum 14. Dezember anhält. Von ihr ist vor allem der große Südkontinent betroffen, der aus den damals zusammenhängenden Kontinenten Südamerika, Afrika, Indien, Antarktis und Australien besteht.


13. Dezember

  

Am 13. Dezember, beim Zusammenstoß des Nord- und Südkontinents, falten sich in Nordamerika die Appalachen, in Nordafrika das Atlasgebirge und in Deutschland die meisten Mittelgebirge (variskische Faltung). Der Ur-Atlantik ist verschwunden, alle Kontinente bilden nun einen einzigen großen Festlandsblock. Saurier, Säugetiere, Vögel und Insekten, breiten sich ungehindert aus und entwickeln zahlreiche neue Arten und Formen.


16. Dezember

  

Bis zum 16. Dezember bleibt der Urkontinent zusammen. Dann reißt er auseinander, getrieben von den Kräften des Erdinnern. Die Gezeitenwirkung des Mondes kann kaum eine große Rolle gespielt haben; der Mond hatte schon fast den gleichen Abstand wie heute.

Zwischen dem 16. und 19. Dezember zerbricht der Urkontinent in vier große Platten: "Laurasia", bestehend aus Nordamerika, Europa und Asien; Südamerika mit Afrika; Indien; Antarktis mit Australien.


27. Dezember

  

Im gleichen Zeitraum gelingt es den Sauriern, die beherrschende Lebensform auf der ganzen Erde zu werden. Die Zahl der Gattungen größerer Säugetiere sinkt von 175 am 16.12. auf Null am 19.12.; alle Säugetiere mit mehr als 2 kg Körpergewicht verschwinden, vermutlich ausgerottet von den größeren, stärkeren und besser gepanzerten Sauriern. Die Alleinherrschaft der Saurier dauert vom 19. bis zum 27. Dezember - ungefähr 9 Tage unseres Modelljahres oder 130 Millionen Jahre. Dann, am Mittag des 27. Dezember, sterben sie "plötzlich und unerwartet" aus. Die Ursache ihres Aussterbens ist nicht mit Sicherheit bekannt. Es gibt deutliche Hinweise auf einen größeren Meteoriteneinschlag genau zu jener Zeit. Dabei wurden gewaltige Mengen Erde und Gestein verdampft und verdunkelten für mehrere Jahre die Atmosphäre. Die damit verbundenen Veränderungen des Erdklimas könnten den Sauriern die Lebensgrundlage entzogen haben. Kleinere Säugetiere, die Vögel, die Insekten und einige Reptilien hatten bessere Überlebenschancen. Es gibt jedoch auch Indizien für andere Ursachen des Massensterbens. Übrigens sind auch die Ammoniten, deren Versteinerungen wir in großer Zahl in der Schwäbischen Alb finden, zusammen mit den Sauriern am Mittag des 27. Dezember ausgestorben.

Nach dem Ende der Saurier, am Nachmittag des 27. Dezember, beginnt der Aufstieg der Säugetiere.

Inzwischen, d. h. in der Woche nach dem 19. Dezember, hat sich Südamerika von Afrika gelöst und beginnt nach Westen zu treiben, während im Norden Nordamerika von Grönland abreißt. Grönland ist noch bis zum 27. Dezember mit Norwegen verbunden.


28. Dezember

  

Am 28. und 29. Dezember entstehen bei Zusammenstößen kontinentaler Schollen und Ozeanböden alle heutigen Hochgebirge - die Rocky Mountains in Nordamerika, die Landverbindung zwischen Nord- und Südamerika, die Anden in Südamerika, die Alpen, die Karpaten, der Kaukasus in Europa. In Asien rammt Indien am 29. Dezember gegen Tibet, und der Zusammenstoß führt zur Auffaltung des Himalaya-Gebirges. Nun erst, drei Tage vor Jahresende, hat die Erdoberfläche im wesentlichen die uns vertraute Gestalt; Einzelheiten, z. B. der 2000 km lange Golf von Kalifornien entstehen erst am Nachmittag des 31. Dezember.


31. Dezember

  

Aber noch immer gibt es keine Spur von einem Menschen. Erst am Abend des 31. Dezember (etwa zu Beginn der Tagesschau im Fernsehen) finden sich erste Spuren früher Menschentypen in Ostafrika. Gegen 22 Uhr beginnt in Europa, Asien und Nordamerika eine Periode großer Vereisung mit wärmeren Zwischenzeiten. Um 23 Uhr 50, in einer solchen Zwischen-Warmzeit, ist die Höhle im Neandertal bei Düsseldorf bewohnt. Um 23 Uhr 57 beginnt der vorläufig letzte große Vorstoß des Eises, in Deutschland werden Teile Schleswig-Holsteins, Pommern und Ostpreußen unter Gletschern begraben. Um 23 Uhr 58 entstehen die Höhlenmalereien in Lascaux und in Altamira. Um 23 Uhr 59 tauen die Gletscher in der norddeutschen Tiefebene und in Skandinavien.

Erst in diesem Augenblick, mit der letzten Minute unseres Modelljahres, beginnt die eigentliche Kulturgeschichte der Menschheit.

Um 23 Uhr 59 und 28 Sekunden wird in Ägypten die Cheopspyramide errichtet. 18 Sekunden vor Mitternacht werden die Bücher Moses, Homers Ilias und Odyssee geschrieben. 13 Sekunden vor Mitternacht wird Christus geboren und gekreuzigt. 4 Sekunden vor Mitternacht wird die Buchdruckerkunst erfunden, 3 Sekunden vor Mitternacht sucht Kolumbus den Seeweg nach Indien und stößt auf Amerika. In der vorletzten Sekunde vor Mitternacht leben Napoleon, Goethe und Beethoven.

In der letzten Sekunde des Jahres versechsfacht sich die Erdbevölkerung, verbraucht einen großen Teil ihrer Kohle-, Öl- und Erzvorräte und bringt sich in Gefahr, ihre Umwelt zu vergiften und die Erde unbewohnbar zu machen.

(Ende des Vortragstextes)


Und weiter?

  

Wie groß sind die Chancen für die Menschheit, eine weitere Minute zu überleben, also bis zum Jahr 12000 n. Chr.? Oder bis 0 Uhr und 10 Minuten? Oder gar bis 1 Uhr der Sylvesternacht? Ganz zu Schweigen vom 2. Januar des neuen Jahres oder gar dem 1. Februar?

Die Sonne hat noch für viele Monate Brennstoff. Im Februar wird die Leuchtkraft der Sonne spürbar zunehmen, und die Temperaturen auf ungemütliche Werte ansteigen. Aber wahrscheinlich wird das niemanden mehr tangieren.


Tipp

  

Wie wärs, nächstes Jahr diese Geschichte gedanklich einmal durchzuspielen? Vielleicht einfach die wichtigsten Stationen in den Kalender oder in ein Kalenderprogramm eintragen und zu Sylvester ein paar Gedenksekunden einlegen ...





Letzte Änderung 23.12.2003